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Corona. Macht. Politik.

By Erny GillenApril 15, 2020


Ein Vergleich

Als Feuer und Wasser die Kathedrale Notre Dame in Paris am 15. April vor einem Jahr gleichermassen bedrohten, waren Augenmaß und viele kleine Entscheidungen nötig, um das Grundgerüst nicht zu überfordern. Keine Generalprobe hatte ein solches Inferno vorgesehen. Es kam auf die Professionalität der Feuerwehrleute und deren Leitung an. Noch während der Brand schwelte, kamen die ersten Zusagen und Versprechen aller Art für einen raschen Wiederaufbau. Als der Schaden Wochen später erhoben war, wurden Vorschläge eingebracht und ausgewertet, wie die Neue Kathedrale Notre Dame in Zukunft aussehen sollte. Das neue Denkmal würde anders aussehen und die Geschichte und Erfahrungen des verheerenden Brandes integrieren.


Ein neuer gesellschaftlicher Pakt entsteht

Noch in der Nacht selber hatte Präsident Emmanuel Macron das Heft in die Hand genommen und einen Ordnungsrahmen für die Zukunft geschaffen. Ähnliches erleben wir dieses Jahr in der ganzen Welt angesichts der Corona-Pandemie. Politiker ergreifen ihre legitime Macht und schaffen innerhalb kürzester Zeit Verhältnisse, die der nur schwer einschätzbaren Situation so gut wie möglich Rechnung tragen. Sie tun das zumeist im Einverständnis der Bürgerinnen und Bürger, die allein in der Lage sind, das Blatt exponentiell so rasch zu wenden, dass das hochgekrönte Virus das Rennen um unsere Atemluft und Nerven vorerst einmal verloren hat. Noch ist der Druck auf dem Gesundheitssystem hoch, das seine Tragfähigkeit auch durch die übermenschliche Kraft und Resilienz vieler Ärztinnen, Pfleger und Mitarbeitenden behaupten konnte.

Schon kommt der Druck von der Wirtschaft, die kollateral ebenso stark leidet. Ihr Wiederaufbau benötigt heute ebenfalls Helden, die bereit sind, unter dem Risiko ihrer Existenz neu anzufangen. Dies wird dann gelingen, wenn die Politik ihre gerade erst wiedergefundene Macht behält und Rahmen für die Ordnungspolitik der Zukunft vorgibt.
Der gerade offen gelebte neue Pakt zwischen Völkern und ihren Regierungen sollte nicht vorschnell zugunsten von sich behaupten wollenden Einzelinteressen wieder gebrochen werden.

Retro-topia oder Utopia ?

In dem Zusammenhang lohnt sich einen Blick in das letzte Werk des 2017 verstorbenen grossen polnisch-britischen Soziologen und Philosophen Zygmunt Baumann zu werfen. Unter dem vielsagenden Titel “Retrotopia” führt er das Unbehagen in der Gesellschaft und die stetig wachsende Tendenz, die Zukunft in der Vergangenheit zu suchen, gerade auf das Auseinanderfallen von Macht und Politik zurück. Die neue, durch das Corona-Virus ermöglichte, kollektive Lage hat Macht und Politik wieder wirkmächtig zusammengeführt. Diese birgt für die Gesellschaft und ihre Politik neue Chancen und Risiken, die nur gemeinsam mit einer Wirtschaft im Dienste des Gemeinwohls bewältigt werden können. Eine neue, von Politik und Gesellschaft vorzugebende, Wirtschaftsordnung sollte den Anspruch haben, an einer besseren Welt für viele Menschen mit zu wirken.

Es gibt kein Zurück in eine vermeintlich goldene Vor-Corona-Zeit. Solche Vorstellungen wären nach Baumann nichts als rückwärtsgewandte Retrotopien. Für die Post-Corona-Zeit werden Utopien, oder weniger futuristisch formuliert, Ziele und Pläne gebraucht, die sowohl Corona-fest als auch sozialethisch-fest sind. Der Dialog um eine feuerfeste und wassergeschützte Gesellschaft sollte nicht hinter verschlossenen Türen geführt werden, sondern in den Parlamenten und mit den Bürgerinnen und Bürger. Die Wirtschaft könnte sich dieses Mal im kreativen Zusammenspiel mit den Gemeinschaftsgütern Gesundheit und Klima selber zu einem weiterhin privat bewirtschafteten Gemeinschaftsgut im Dienste des Gemeinwohl entwickeln. Bürger und Politik haben bewiesen, dass sie der aktuellen Gesundheitskrise gewachsen sind. Sie können dieses Mal auch beweisen, dass sie der kommenden Wirtschaftskrise gewachsen sind, wenn sie sich weiter transparent und im Dialog für das Gemeinwohl einsetzen.

Wirtschaftliche Hilfe für die Helden des Gemeinwohls

Bis auf Weiteres wird sich, in dieser Utopie, niemanden daran stören, wenn wirtschaftliche Hilfen für Unternehmen daran gebunden werden, dass die dank einer kollektiven Anstrengung erst möglichen und nötigen Gewinne hundertprozentig zurück in die Gemeinschaftskasse der Bürger fliessen. Ein zurück in die alte Welt rein privater Interesse wäre ein zurück in Muster von ungerechter Diskriminierung und Macht des Stärkeren.


Ich freue mich auf die Zeit, wenn bedingungslos geschützte Bürgerinnen und Bürger um 21 Uhr am Abend auf den Strassen und in den Häusern innehalten, um einer Wirtschaft zu applaudieren, die unter dem Risiko ihrer Existenz einen weiteren Menschen aus der Armut gerettet hat und ihre Türen weiterhin unterschiedslos für alle offenhält, die Arbeitskraft und -wille anbieten. Die Verantwortlichen und Kapitaleigner der Wirtschaft können in dieser Krise viel über ihre sogenannten Arbeitskräfte oder Human Resources von den aktuellen Heldinnen des Gesundheitswesen, den Verkäufer hinter der Brottheke, den Fahrerinnen und den unzähligen Ehrenamtlichen lernen. Wenn es um Menschen geht, wird nicht gerechnet!


Wir. Macht. Politik.

Das Momentum der neugefundenen kosmopolitischen Einheit unseres Menschengeschlechts sollten wir nicht ungenutzt verstreichen lassen. Auch die neue Macht der Politik ist im demokratischen Staat immer nur delegiert und geliehen, um die Schrecken eines jeden gegen jeden und alle zu domestizieren. Der bisweilen ungehemmte Kampf zwischen unbescholtenen Supermarktkunden um ein paar Klorollen wird emblematisch in Erinnerung bleiben. Das Tier im Menschen bedarf der Zähmung, genauso wie die Gier in der Wirtschaft gezügelt werden muss.


Es wäre verheerend für unser Demokratieverständnis, müssten Wir nach dem Aufheben des Lockdowns feststellen, dass die unsichtbaren Berater die neu gewonnene Macht schon wieder feinsäuberlich von der Politik geschieden haben, um sie in ihrer unsichtbaren Hand zu behalten. Zygmunt Baumann schliesst sein Buch Retrotopia mit einem Satz, dem nichts beizufügen ist: “Entweder wir reichen einander die Hände — oder wir schaufeln einander Gräber.” Wir. Macht. Politik.


Erny Gillen, am 13. April 2020